Unser Leben unterliegt täglichen Anforderungen, die wir jeden Tag aufs Neue lernen müssen zu bewältigen. Die meisten davon sind harmlos und ungefährlich, wie zum Beispiel die allererste Fahrstunde, der erste Kuss, die erste eigene Wohnung oder eine neue Aufgabe auf Arbeit. Es gibt jedoch auch Ereignisse die sich stark belastend auf uns auswirken können. Aber sind diese Erfahrungen gleichzeitig auch traumatisierend? Oder gibt es einen Unterschied zwischen einem belastenden Lebensereignis und einem Trauma? Nun können Sie sich sicherlich denken, dass es diesen Unterschied geben muss, sonst würde ich wahrscheinlich nicht danach fragen. Wie aber sieht dieser Unterschied genau aus?
Um dies zu klären möchte ich Ihnen drei Beispielsituationen nennen und Sie bitten, sich einmal Gedanken darüber zu machen, welche dieser Beispiele belastende und welche traumatisierende Erfahrungen darstellen könnten.
Beispiel 1:
Sie laufen spät abends von der Arbeit nach Hause. Dazu müssen Sie durch eine dunkle, einsame und enge Straße gehen. Plötzlich kommt Ihnen ein dunkel gekleideter Mann entgegen und versperrt Ihnen zunächst den Weg, bevor er Sie plötzlich in einen Hauseingang zieht, um Sie dort zu vergewaltigen.
Beispiel 2:
Sie sitzen abends zu Hause und genießen Ihren Feierabend, als plötzlich das Telefon klingelt und Sie mitgeteilt bekommen, dass Ihre Eltern beide bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt sind.
Beispiel 3:
Sie sind ein Kind und müssen mit ansehen, wie ihr Vater ihren kleinen Bruder lautstark anschreit und brutal verprügelt.
Nun, Sie geben mir sicherlich recht, dass alle drei Situationen extrem stressige Ereignisse und somit in diesem Falle auch stark aversive Reize darstellen, die kaum einem Menschen gleichgültig wären. Jede einzelne dieser Erfahrungen wird sich in irgendeiner Form auf unser weiteres Leben auswirken. Und jede dieser Situationen wird von unserem Gehirn als bedrohlich und gefährlich eingestuft werden. Dies führt dann dazu, dass unser Gehirn unseren Körper auf eine Kampf-oder Fluchthandlung vorbereitet, indem es unter anderem unser autonomes Nervensystem aktiviert, in diesem Falle, v.a. unseren Sympathikus. Diese automatisch und unbewusst ablaufende Reaktion unseres Gehirns kann ein Grund dafür sein, dass das Ereignis, welches uns gerade "stresst" nicht als Trauma in unserem Gedächtnis abgespeichert, sondern nur als belastendes Ereignis verarbeitet wird. Wann wäre dies der Fall? Wenn wir erfolgreich auf das Ereignis Einfluss nehmen bzw. reagieren können und dem nicht hilflos ausgeliefert sind. Dies wäre eventuell der Fall in unserem ersten Beispiel, wenn die Frau es schaffen würde, im Rahmen einer Kampfreaktion den Angreifer zu überwältigen oder im Rahmen einer Fluchtreaktion, wenn sie sich losreißen und der ganzen Situation davonlaufen könnte. Ebenfalls möglich wäre es in unserem dritten Beispiel, wenn Sie es schaffen, Hilfe zu holen oder dazwischen zu gehen um Schlimmeres zu verhindern. In unserem zweiten Beispiel hingegen ist weder eine Kampf- noch eine Fluchthandlung möglich, hier sind Sie dem Ereignis einfach ausgesetzt und können nicht mehr in das Geschehen eingreifen. Das bedeutet, sie haben keine Bewältigungsmöglichkeiten für diese spezielle Situation zur Verfügung (zumindest in dem Moment).
Zusammengefasst können wir also feststellen, dass der Unterschied zwischen einem belastenden Lebensereignis und einem Trauma darin besteht, dass ich bei Ersterem noch genügend Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung habe und die Situation mich sozusagen nicht "überflutet" oder "vernichtet".
Im nächsten Abschnitt soll geklärt werden, wie Traumata definiert und eingeteilt werden können. Ganz allgemein stammt der Begriff "Trauma" aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt so viel wie "Verletzung". Es spielt dabei erst einmal keine Rolle, wodurch die Verletzung zustande kommt. Im medizinischen Kontext stellt ein Trauma eine Verwundung dar, welche durch eine Gewalteinwirkung oder durch einen Unfall hervorgerufen wurde (z.B. Schädel-Hirn-Trauma). Bei einem psychischen Trauma handelt es sich um eine extreme Erfahrung, die einer Person widerfährt, welche überwiegend zu starker Angst, Ohnmachts- oder Hilflosigkeitsgefühlen oder Schmerzen führt. Diese bedrohliche Situation kann sich hierbei sowohl auf die eigene Person, wie auch auf andere Personen beziehen und den Körper, wie auch die psychische Integrität betreffen.
Nach DSM-IV musste ein psychisches Trauma zwei Aspekte erfüllen: 1) Ein betroffene Person muss ein Ereignis erleben oder Zeuge eines solchen sein, welches mit einer relevanten Bedrohung für den eigenen Körper oder der psychischen Integrität der betroffenen Person selbst oder einer anderen Person einhergeht; 2) Die Reaktion auf dieses Ereignis beinhaltet ein ausgeprägtes Hilflosigkeitsempfinden, intensive Furcht und Horror (Sass et. al.; 2003). Das zweite Kriterium wurde aufgrund seiner Subjektivität und aufgrund dessen, dass es die Trauma-Definition einengte, stark kritisiert. So gab es unter anderem Traumata, die zwar das erste Kriterium erfüllten, aber das Zweite nicht. Dies war z.B. der Fall, wenn das Ereignis nur beobachtet wurde oder wenn z.B. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen mit traumatischen Ereignissen in Form von z.B. Erzählungen oder Bildern konfrontiert sind. Dadurch kam es im DSM-V zu einer Veränderung in der Definition des "Trauma-Begriffes", und der subjektive Aspekt wurde gestrichen. Aber auch die objektiven Kriterien wurden maßgeblich an die aktuellen Vorkommnisse des Weltgeschehens angepasst und erweitert. So werden nun Ereignisse berücksichtigt, denen die Person direkt ausgesetzt ist, welche sie nur beobachtet hat, denen sie nur indirekt ausgesetzt ist (z.B. unvorhergesehener Todesfall oder Unfalls eines Angehörigen oder Freundes) und Ereignisse, wo der Betroffene wiederholt mit stark aversiven Details eines traumatischen Ereignisses konfrontiert wird (z.B. Angehörige von Hilfsorganisationen, die berufsbedingt mit Traumatisierungen konfrontiert werden).
Im deutschen Klassifikationssystem ICD-10 sind die Kriterien eines traumatischen Ereignisses erfüllt, wenn die betroffene Person kurz- oder langanhaltend einem Ereignis ausgesetzt war, welches bei fast jedem Menschen eine tiefgreifende Verzweiflung hervorrufen würde, aufgrund ihrer außergewöhnlichen Bedrohung bzw. ihres katastrophalem Ausmaßes.
Eine weitere Definition liefern Fischer und Riedesser in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie (München, 1998, S. 79). So handelt es sich bei einem Trauma um ein: " […]ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, die mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt."
Diese Definition beinhaltet ein paar sehr wichtige Aspekte. Sie besagt, dass ein Trauma etwas Relatives ist, und von jedem Menschen unterschiedlich eingestuft wird, in Abhängigkeit von der Situation an sich und den individuellen Bewältigungskapazitäten der Person. Nur wenn die Bewältigungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um die Situation adäquat bewältigen zu können, kommt es zu einem "Diskrepanzerleben". Das bedeutet, dass eine bestimmte Situation bei Person A traumatisierend wirken kann, während sie bei Person B nur Stress erzeugt bzw. als belastend eingestuft wird.
Des Weiteren hat das Trauma relevante Wirkungen auf der Gefühlsebene. So erzeugt es stark aversive Emotionen wie "Hilflosigkeit", Ausgeliefertsein, Ohnmacht oder Kontrollverlust.
Und ebenfalls eine große Rolle spielen die Auswirkungen der Traumaerfahrung auf das "Selbst- und Weltverständnis". Oft verändert eine traumatische Erfahrung unsere Sicht auf uns selbst und die Welt. Die Person fühlt sich nicht mehr sicher, sondern schwach und verletzlich. Die vorher sichere und gerechte Welt wird zu einem gefährlichen Ort.
Die Situationen, welche Personen als traumatisch erleben können umfassen eine sehr große Bandbreite (Spannweite), daher erscheint es sinnvoll, diese einzuteilen. Hierfür gibt es mehrere Möglichkeiten: einerseits können sie anhand ihrer Ursache , andererseits anhand der Häufigkeit ihres Auftretens klassifiziert werden. Die amerikanische Kinderpsychologin Lenore Terr (1991) unterschied zwischen Typ-I-Traumata und Typ-II-Traumata. Bei Typ-I-Traumata handelt es sich um kurzandauernde, unvorhersehbare, heftige Monotraumata (z.B. Naturkatastrophen, Unfälle, Vergewaltigung). Typ-II-Traumata sind hingegen langandauernde oder sich wiederholende und dadurch teilweise vorhersehbare multiple Traumata (z.B. Krieg, chron. familiäre Gewalt).
Typ-I-Traumatisierung (Mono-Trauma oder Schocktrauma) |
Typ-II-Traumatisierung (multiple Traumatisierung oder Komplextraumatisierung/ Entwicklungstrauma)
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Einmaliges, unerwartetes, kurzandauerndes traumatisches Ereignis
Haben einen Anfang und ein Ende
Treten auf in einem sonst relativ normal ablaufendem Leben
Beispiele: Verkehrsunfälle, Vergewaltigung, Naturkatastrophe, Opfer einer Gewalttat oder Zeuge einer Gewalttat, Operationen, Überfälle
Gute Behandlungsprognose
Symptome: Klare und sehr lebendige Wiedererinnerungen
Vollbild einer PTBS |
Serie von traumatischen Erfahrungen die miteinander verknüpft sind oder lang andauernde bzw. sich wiederholende traumatische Ereignisse
Kein eindeutiger Anfang und kein klar abgrenzbares Ende
Beispiele: traumatisierende Entwicklungsbedingungen in der Kindheit (u.a. Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, häufig wechselnde Bezugspersonen, chronisch kranke Eltern, Flucht und Verreibung aus Heimatländern); Folter, politische Inhaftierung, Kriegserleben
Schwerer behandelbar
Symptome: Bindungsstörung Oft nur diffuse Wiedererinnerungen Ausgeprägte Dissoziationsneigung |
Traumatypen nach Terr (1991)
Landolt (2004) erweiterte diese Einteilung, indem er die Ursachen berücksichtigte, durch welche die traumatischen Erfahrungen ausgelöst wurden. So unterschied er zwischen Traumata, die durch Menschen verursacht werden (z.B. Vergewaltigung, Krieg), die durch Naturkatastrophen ausgelöst werden (z.B. Brände, Flutkatastrophen, Erdbeben) und akzidentellen Traumata (z.B. Unfälle).
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Typ-I-Traumata |
Typ-II-Traumata |
Medizinisch bedingte Traumata
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Akzidentielle Traumata
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Schwere Verkehrsunfälle,
sekundäre, berufsbedingte Traumata
kurz andauernde Katastrophen
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Lang andauernde Naturkatastrophen
Technische Katastrophen (Atomkraftwerks-Unfall) |
Akute lebensgefährliche Erkrankungen
Chronische, lebensgefährliche Krankheiten
Notwendige medizinische Eingriffe
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Interpersonelle Traumata
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Sexuelle Übergriffe
Kriminelle bzw. körperliche Gewalt
Ziviles Gewalterleben (z.B. Banküberfall) |
Sexuelle und körperliche Gewalt/ Missbrauch in der Kindheit bzw. im Erwachsenenalter
Kriegserleben
Folter, Geiselhaft, politische Inhaftierung (KZ-Haft) |
Komplizierter Behandlungsverlauf nach angenommenem Behandlungsfehler |
Traumatypen nach Maercker(2009)
Eine andere Art der Einteilung bezieht sich darauf, ob die Person die Situation als Opfer selbst erlebt hat (Primäre Traumatisierung) oder sie "nur" als Zeuge beobachtet hat bzw. indirekt über den Kontakt oder die Konfrontation mit traumatisierten Personen erfahren (Sekundäre Traumatisierung). Dazu zählen zum Beispiel Familienangehörige oder Mitarbeiter in Helferberufen wie Polizei, Feuerwehr oder Mitwirkende in Asylunterkünften.
Die Einteilung von Traumatypen ist schwierig, weil die Bandbreite dessen, was traumatisierend wirken kann, nahezu unendlich groß erscheint. So nachvollziehbar und logisch bisher vorhandene Kategorien sind, so bieten sie dennoch Kapazität für einzelne Kritikpunkte.
Die Kategorie „Interpersonelle Traumata“ differenziert jedoch nicht, ob es sich bei dem „Täter“ um eine nahestehende oder eine fremde Person handelt. Dies ist jedoch für die Betroffenen oft von großer Bedeutung, v.a. wenn es sich um Vergewaltigungen oder Überfälle handelt.
Zu wenig berücksichtigt wird bisher ebenfalls die Auswirkung des Alters in dem die Traumatisierung (en) stattfand, also des Entwicklungsstandes der betroffenen Person. So hat eine sehr frühe Traumatisierung deutlich stärkere Auswirkungen auf z.B. die Hirnentwicklung als eine spätere Traumatisierung (van der Kolk, 2005, Streck-Fischer, 2006).
Ein psychisches Trauma kann jede psychisch gesunde Person treffen, da sie von außen verursacht wird. Hierdurch unterscheidet sie sich auch von anderen psychischen Störungen (Hermann & Bäurle, 2010).
hierbei handelt es sich um ein Ereignis, welches von unserem Gehirn als äußerst extreme Bedrohung, also als lebensgefährlich erkannt wird; übersetzt bedeutet es Vernichtungsdrohung
Weiß ich, was der Unterschied zwischen einem belastenden Lebensereignis und einem Trauma ist?
Weiß ich, was die Diagnosekriterien nach ICD-10 bzw. nach DSM-V für ein traumatisches Ereignis sind?
Weiß ich, wonach Traumata klassifiziert, also eingeteilt werden.
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Ramona (Donnerstag, 14 Juni 2018 18:28)
Vielen Dank für diesen lieben Eintrag. LG Ramona
Nico (Donnerstag, 14 Juni 2018 14:55)
Tolle Website! Ich kam über das Quellenverzeichnis meiner Vorlesung in Diagnostik an der Universität Innsbruck auf die Seite und muss sagen, dass diese Seite das Thema deutlich besser darstellt, als die Präsentation der Professorin. Vielen Dank für Ihre Arbeit!